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Talent-Räume für Jugendliche mit Migrationshintergrund

Im Gespräch mit Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan

Talent-Räume

Unter dem Motto »Raum für Talent« beleuchten wir, welchen Raum junge Menschen brauchen, um ihre Talente zu entfalten. Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan haben wir gefragt, warum die Potenziale von Jugendlichen mit Migrationshintergrund oft nicht gesehen werden, welche »Talent-Räume« sie benötigen, damit sich dies ändert und wie der Perspektivwechsel vom defizitären zum potenzialorientierten Blick gerade auch in der Schule ganz konkret aussehen kann.

Abbildung von Prof. Dr. Haci Halil Uslucan, Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen.
Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan

Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan

Haci-Halil Uslucan ist Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. Seine Fachgebiete sind Cultural Studies, Schule und Gesellschaft sowie Bildungsfragen. Professor Uslucan wirbt dafür, statt der Defizite die Potenziale von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte wahrzunehmen.

haci.uslucan@uni-due.de Zur Person

Wir sollten viel stärker die Potenziale von Jugendlichen mit Migrationshintergrund erkennen und in ihnen nicht nur eine Belastung und eine Gefahr für die Gesellschaft sehen.

Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan

Im Gespräch mit Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan

Herr Uslucan, bringen Sie uns auf den Stand: Was sagt die Forschung zur Bildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund?

Wissenschaftliche Befunde zeigen, dass einheimische Kinder, je nach Bundesland, immer noch drei Mal häufiger den Übergang auf ein Gymnasium schaffen. Das heißt, hinsichtlich der Bildungsbeteiligung in Deutschland weisen junge Menschen mit Migrationshintergrund nach wie vor ungünstigere Werte auf. Das gilt besonders für türkeistämmige, auch wenn in den letzten Jahren eine Verbesserung erkennbar ist.

Warum ist das so?

Das liegt unter anderem am sozioökonomischen Status und den fehlenden familialen Unterstützungspotenzialen. Türkeistämmige gehören – im Durchschnitt – immer noch zu der Bevölkerungsgruppe mit einem geringem Einkommen. Aber es liegt auch an strukturell benachteiligenden Praktiken der Bildungsinstitutionen.

Was ist mit »benachteiligenden Praktiken der Bildungsinstitutionen« gemeint?

Das sind »leistungsunabhängige soziale Filter«, die in Bildungsorten wirksam werden. Ein Beispiel: Bei der Notengebung oder bei den Empfehlungen zu weiterführenden Schulen in der Grundschule können leistungsunabhängige soziale Filter die Kinder benachteiligen. Kinder der unteren Schichten werden häufig etwas schlechter, Kinder oberer Schichten häufig etwas besser benotet als es ihren tatsächlichen Leistungen entspricht. Lehrende lassen sich unbewusst vom sozioökonomischen Status der Eltern beeinflussen, vielfach weil sie bei sozial besser gestellten Eltern auch höhere Unterstützungspotenziale annehmen.

Sie sprechen von den »verkannten Potenzialen« der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.

Es dominiert leider immer noch ein defizitärer und kompensatorischer Blick auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Der Fokus auf das Scheitern und auf die Probleme verstellt vielfach die Wahrnehmung der Stärken und Ressourcen dieser Gruppe. Vor allem zu den Defiziten von Zuwanderinnen und Zuwanderern im Bildungssektor ist bereits viel geforscht worden.

Doch wie steht es um die Potenziale, um Begabungen, um Hochbegabungen von Zuwanderern? Woher kommt es, dass diese Begabungen selten identifiziert, gewürdigt und auch zu wenig ausgebaut werden? Beispiel Mehrsprachigkeit: Aus den fehlenden Deutsch-Sprachkenntnissen werden allgemeine Sprachdefizite abgeleitet. Vielleicht hat das Kind jedoch keine Sprachdefizite, sondern sein Sprachwissen, sein Wortschatz sind nur auf verschiedene Sprachen verteilt, so dass es vielleicht insgesamt betrachtet einen genau so großen oder sogar deutlich größeren Wortschatz wie seine deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler hat.

Was müsste geschehen, damit diese Potenziale gesehen werden? Welche Talent-Räume bräuchten diese jungen Menschen, um ihre Potenziale entfalten zu können?

Damit Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte nicht schon mit Schuleintritt Versagenserfahrungen machen, ist eine qualitativ bessere Bildung bereits im vorschulischen Bereich wichtig, vor allem eine bessere sprachliche Förderung, damit auch intellektuelle Potenziale des Kindes sichtbar werden können. Studien zeigen zudem, dass ein positives Schulklima eine fördernde und schützende Wirkung haben kann. Das gilt insbesondere, wenn eine gute Beziehung zur Lehrkraft vorhanden ist und die Schülerinnen und Schüler ihre Lehrkraft als interessiert und kognitiv herausfordernd wahrnehmen. Migrantenjugendliche sollten in den Schulen – ungeachtet ihrer möglicherweise geringeren sprachlichen Kompetenzen im Deutschen – stärker in verantwortungsvolle Positionen eingebunden werden. Sie identifizieren sich dann erfahrungsgemäß stärker mit ihren Aufgaben: Ihre inneren Bindungen zur Schule werden gestärkt und sie können Selbstwirksamkeit erfahren. Natürlich müsste ethnische Diskriminierung im Bildungssystem als Thema auch viel stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden.

Sie haben eben das Thema positives Schulklima angesprochen. Wie können Schulen den Rahmen dafür schaffen?

Schule hat das Potenzial, für Kinder mit familiären Belastungen, zum Beispiel Armut, schwer erkrankte Eltern etc., der Ort zu sein, wo sie von Lehrkräften Unterstützung, Anerkennung und positive Rückmeldung bekommen können, die vielleicht im häuslichen Umfeld gerade fehlt. Sie können über gute schulische Leistungen und Erfolgserlebnisse kurz- und langfristige Impulse für ihre Entwicklung initiieren. Darüber hinaus ermöglichen natürlich auch Freizeitaktivitäten in oder nach der Schule, wie Sport, Tanz oder Kunst, Kindern und Jugendlichen ihre Stärken und Talente zu entdecken. Sie kommen dabei mit kompetenten Erwachsenen wie Mentorinnen und Mentoren in Kontakt, die sie als Vorbild nehmen können.

Geben Sie uns ein Beispiel, wie der Perspektivwechsel vom defizitären zum potenzialorientierten Blick ganz konkret aussehen kann?

Gerade bei Schülerinnen und Schülern, die eine junge Zuwanderungsgeschichte haben, die noch neu hier sind, sollten individuelle statt soziale Bezugsnormen angesetzt werden. Das heißt, ihre Fähigkeiten sollten nicht nur daran gemessen werden, wie gut sie im Schnitt zu den anderen sind, sondern welche Entwicklungen sie in der kurzen Zeit gemacht haben. Möglicherweise sind sie immer noch schwach oder durchschnittlich. Aber wer in einer so kurzen Zeit diese hohen kognitiven Veränderungen gemacht hat, sich zum Beispiel nach nur ein oder zwei Jahren sprachlich verständigen kann, vielleicht Elternteile hat, die nur über Grundschulbildung verfügen, der hat möglicherweise hohe kognitive Potenziale. Und diese gilt es, besonders zuverlässig und schnell zu entdecken.

Trainingsaufgabe und Buchtipp von Professor Uslucan

Trainingsaufgabe

Denken Sie an Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte aus Ihrer Klasse, an Ihrem außerschulischen Lernort oder in Ihrer Beratungsstelle: Welche Sprachen kann das Kind, die ich nicht kann? Wie schaffen junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ganz ohne elterliche Hilfe das Schulsystem in Deutschland?

Schreiben Sie Ihre Gedanken auf und reflektieren Sie anschließend Ihre Notizen: Liegen bei diesen Kindern und Jugendlichen möglicherweise unerkannte hohe individuelle Begabungen vor?

Buchtipp

Débora B. Maehler, Alexandra Shajek und Heinz Ulrich Brinkmann (Hrsg.): Diagnostik bei Migrantinnen und Migranten. Ein Handbuch. Göttingen, 2018, Hogrefe Verlag.

Auszug: »Obwohl der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in den letzten Jahren stark gestiegen ist, fehlte es bislang an einer systematischen Übersicht über diagnostische Verfahren für diese Zielgruppe. Das Handbuch trägt die verfügbaren diagnostischen Verfahren zusammen, die derzeit für Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland vorliegen. Das Buch richtet sich an einen breiten Personenkreis aus Wissenschaft und Praxis.«

Kulturelle Konzeptionen von Intelligenz und Begabung

Menschliches Verhalten ist weitestgehend kulturgebunden, insofern ist auch die Intelligenz eher kulturspezifisch als universal. Intelligenztests sind nur dann angemessen, wenn sie auch in der jeweiligen Kultur relevante Fähigkeiten bzw. Kenntnisse messen. Auch wenn wir den kulturellen Bias, die kulturelle Zurichtung, nicht immer sofort merken: Kultur ist, unausgesprochen, das Wasser um uns herum, in dem wir schwimmen. Wir machen uns in der Regel über sie keine Gedanken, aber unsere Auffassungen von Intelligenz stammen natürlich aus einer intellektuellen Tradition moderner Leistungsgesellschaften. Intelligenz wird weitestgehend über das Schulsystem bzw. das Bildungssystem vermittelt und spielt eine herausragende Rolle. Diesen Unterschied würden wir sehr schnell merken, wenn wir beispielsweise für eine kurze Zeit in der Savanne oder am Amazonas leben müssten: Wie weit könnten wir mit unserer Intelligenz in dieser Umgebung überleben? Unsere Intelligenz ist sehr symbolisch, figural, mathematisch und logisch orientiert. Sie ist aber nicht in der Lage, beispielsweise Spuren zu deuten oder giftige und ungiftige Pflanzen voneinander zu unterscheiden. Das jedoch wären Fähigkeiten und Kompetenzen, die relevant für diese Umgebung wären.

Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan

Mentoringprogramme und Stipendien im Begabungslotsen für Jugendliche mit Migrationshintergrund

Stiftungen im Begabungslotsen, die sich an Jugendliche mit Migrationshintergrund wenden

Angebote von Bildung & Begabung

Hybrider Lernraum

Das Format »Im Gespräch mit« ist Teil des Hybriden Lernraums. Hier finden Sie für Ihre Arbeit in Schule oder an außerschulischen Lernorten Methoden, Informationen und Praxistipps aus Wissenschaft und Praxis – als Texte, Podcasts, Videos oder Workshops.

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