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Eindrücke einer Expertin und eines Experten

Wissenschaft und Praxis zur Talentförderung in NRW

Headerbild für das LänderSPECIAL Nordrhein-Westfalen. Ein Pfeil zeigt auf das farblich hervorgehobene Bundesland Nordrhein-Westfalen. Dieses ist zusätzlich durch einen Kartenmarker gekennzeichnet.

In der Diagnostik und Förderung von Begabungen und Talenten gehen Wissenschaft und Praxis Hand in Hand. Beide Perspektiven werden in den folgenden Interviews aufgegriffen.

Professor Dr. Christian Fischer berichtet im Interview, welchen Begabungsbegriff Begabungsforscherinnen und Begabungsforscher ihren Studien zugrunde legen, welche Erkenntnisse es mit Blick auf die Diagnostik im Unterricht gibt, welche Einflussfaktoren auf die Leistung besonders relevant sind und welche Bedeutung beispielsweise das selbstregulierte Lernen im Rahmen der individuellen Förderung einnimmt.

Abteilungsleiterin Uta-Maria Diers erläutert im Interview, welche Bedeutung individuelle Förderung und potenzialorientierter Unterricht im schulischen Kontext einnehmen, wo Lehrkräfte eine qualifizierte Fortbildung und Unterstützung für eine differenzierte schulische Begabungsförderung finden und wer Eltern und Schülerinnen und Schülern zur Seite steht, um persönliche Fragen zur Begabungsförderung zu klären.

Zu Christian Fischer

  • Professur in Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik: Begabungsforschung/Individuelle Förderung
  • Wissenschaftlicher Leiter des Landeskompetenzzentrums für Individuelle Förderung NRW
  • Mitglied der Steuergruppe des BMBF-Forschungsverbundes »Leistung macht Schule«

Zu Uta-Maria Diers

  • Seit 2022 Leiterin der Abteilung 4 (Schulabteilung) der Bezirksregierung Arnsberg
  • Bis 2022 Hauptdezernentin des Dezernates 43 der Bezirksregierung Arnsberg
  • Bis 2022 Generalistin für den Bereich Individuelle Förderung

Interview mit Professor Dr. Christian Fischer

Welche Definition von Begabung legen Sie als Begabungsforscher für Ihre Studien zugrunde, Herr Professor Fischer? Was ist mit Begabung gemeint?

In unseren Studien nutzen wir die Definitionen von Begabung und Leistung des Forschungsverbundes »Leistung macht Schule« (LemaS, 2018), angelehnt an das Begabungsverständnis von iPEGE (2009):

Begabung bezeichnet demnach allgemein das leistungsbezogene Entwicklungspotenzial eines Menschen. Das Leistungspotenzial ergibt sich dabei als individuelle Konstellation aus Fähigkeitspotenzialen (»can do«) und Persönlichkeitspotenzialen (»will do«). Begabung ist eine Voraussetzung von Leistung, die durch langfristige systematische Anregung, Begleitung und Förderung das Individuum in die Lage versetzt, sinnorientiert und verantwortungsvoll zu handeln und auf Gebieten, die in der jeweiligen Kultur als wertvoll erachtet werden, anspruchsvolle Tätigkeiten auszuführen. Leistung kann in allen Domänen erbracht werden, die in Schulen und darüber hinaus in unserer Gesellschaft – für den Einzelnen als auch für die Gesamtgesellschaft – als nützlich und wertvoll erachtet werden.

In der Begabungsforschung nutzen wir das »Integrative Begabungs- und Lernprozessmodell«, das verschiedene Begabungsformen (Potenzial) und Leistungsdomänen (Performanz) differenziert, wobei neben Hochleistern auch Underachiever fokussiert werden. Hierbei werden mit speziellen Persönlichkeitsfaktoren und Umweltfaktoren zentrale Einflussfaktoren auf den Lern- und Entwicklungsprozess zur Transformation von Potenzial in Leistung fokussiert, die als wichtige Voraussetzungen für Leistungsexzellenz sowie als mögliche Ursachen von Lernschwierigkeiten in Frage kommen. Dieser zirkuläre Lern- und Entwicklungsprozess ist nicht nur aus der Sicht der Begabungsforschung, sondern auch aus Sicht der Expertiseforschung bedeutsam, da die Leistungsentfaltung auch die Begabungsentwicklung beeinflussen kann.

Bei erwartungswidrigen Leistungen einer Schülerin oder eines Schülers spricht man von »Underachievement«. Welche Erkenntnisse gibt es mit Blick auf Diagnostik und Maßnahmen in diesem Kontext?

Underachiever sind Kinder und Jugendliche, deren kognitive Voraussetzungen (Intelligenz) eine deutliche Diskrepanz zu den schulischen Leistungen – respektive dem besuchtem Schultyp – aufweisen (Stamm, 2014). Underachiever sind Talente, deren Leistung aktuell beeinträchtigt ist, wodurch sich bei Nichtintervention ungünstige Prognosen für die Erreichbarkeit von Leistungsexzellenz ergeben. (Ziegler, 2008).

Mit Blick auf die Identifikation einer signifikant negativen Diskrepanz werden daher oftmals kognitive Fähigkeitstests genutzt, deren Resultate mit den schulischen Leistungen verglichen werden. Bezogen auf die Intervention werden auch nicht-kognitive Persönlichkeitstests verwendet, zumal neben den Fähigkeitspotenzialen auch die Persönlichkeitspotenziale entscheidend für die schulische Leistungsentwicklung sind, sodass passende Unterstützungsmaßnahmen umgesetzt werden können.

Welche Einflussfaktoren auf die Leistungsentwicklung (das heißt bei der Umsetzung von Begabung in Leistung) sind als besonders relevant angenommen?

Hinsichtlich der Einflussfaktoren auf die Leistungsentwicklung gilt es die Vielfalt von Begabungen in Form verschiedener Fähigkeits- und Persönlichkeitspotenziale einer Person in den Blick zu nehmen. Im Sinne einer diagnosebasierten individuellen Förderung bedarf es dazu nicht nur möglichst differenzierter Diagnoseinstrumente, sondern vor allem auch passender anspruchsvoller Lernumgebungen, damit Schülerinnen und Schüler ihre vielfältigen Potenziale entwickeln und entfalten können. Dabei gilt es, in den unterschiedlichen Domänen die individuellen Talente zu fördern, damit Leistungen nachhaltig entwickelt werden können. Vor dem Hintergrund der Befunde internationaler Schulvergleichsstudien ist neben der gezielten Unterstützung von Kindern aus benachteiligten Lagen oder mit Beeinträchtigungen auch die verstärkte Förderung von Kindern in ihren Begabungen erforderlich. Vor allem die Schule hat die Aufgabe, begabungsförderliche Lernumgebungen zu gestalten und alle Kinder und Jugendlichen als potenziell leistungsfähig zu adressieren. In diesem Kontext sollte über die interpersonale Vielfalt hinaus auch die intrapersonale Diversität etwa mit Blick auf die Kopplung von hohen Leistungspotenzialen mit speziellen Lernschwierigkeiten im Sinne der inklusiven Bildung beachtet werden. Letztlich gilt es die Vielfalt individueller Begabungen zu fördern und die Potenziale aller Kinder nachhaltig zu entwickeln, so dass diese auch einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung im Sinne der gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme leisten können.

Im Kontext der Debatte um die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern gewinnt das selbstregulierte Lernen im schulischen Kontext zunehmend an Relevanz. Welche Voraussetzungen und welche Strategien für selbstreguliertes Lernen sind aus Ihrer Sicht erforderlich?

In Studien wird immer wieder auf die Wirksamkeit von adaptiven Formaten des selbstregulierten Lernens vor allem mit Blick auf die Zielgruppe begabter und talentierter Kinder hingewiesen. Dabei sind Lernstrategien (zum Beispiel Informationsverarbeitung, Lernprozesssteuerung, Selbstregulation) für die Leistungsentwicklung bedeutsam, wobei sich begabte Hochleistende durch differenzierteres Strategiewissen und elaborierteren Strategiegebrauch auszeichnen.

Diese Resultate legen nahe, dass nicht zuletzt begabte Underachiever von Interventionen zu Strategien des selbstregulierten Lernens profitieren, um ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen. Konkret werden diese Befunde im Rahmen der Forder-Förder-Projekte zum selbstregulierten Lernen aufgegriffen und mit Erkenntnissen zur Wirksamkeit des interessensorientierten Lernens verknüpft. Dabei werden diagnostische Instrumente verbunden mit adaptiven didaktischen Konzepten zum selbstregulierten forschenden Lernen im schulischen Kontext auch mit Blick auf spezielle Zielgruppen umgesetzt. Im Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen werden gezielt Strategien des selbstregulierten Lernens bezogen auf den Präsenzunterricht und das Distanzlernen unter systematischer Einbindung digitaler Tools adaptiert.

Für eine differenzierte schulische Begabungsförderung ist der fachliche Anspruch an pädagogische Arbeit von Lehrkräften hoch. Wo finden Lehrkräfte qualifizierte Fortbildung und Unterstützung?

Eine differenzierte schulische Begabungsförderung setzt adaptive Lehrkompetenzen mit passenden fachlichen, diagnostischen, didaktischen, kommunikativen und implementativen Kompetenzen bei (angehenden) Lehrpersonen voraus. Diese werden am Landeskompetenzzentrum für Individuelle Förderung etwa in der Qualifizierung »Expertin und Experte Individuelle Förderung und Potenzialentwicklung« für Lehrerinnen und Lehrer (seit 2010) sowie am Internationalen Centrum für Begabungsforschung etwa in der Qualifizierung zum »ECHA-Diploma: Specialist in Gifted Education and Talent Development« für Lehrerinnen und Lehrer (seit 2001) umgesetzt.

Welche außerschulischen Förder- und Unterstützungsangebote bzw. Anlaufstellen sind in NRW charakteristisch?

In Nordrhein-Westfalen gibt es verschiedene Anlaufstellen, die außerschulische Förder- und Unterstützungsangebote in der Begabungs- und Begabtenförderung bereitstellen. Dazu gehören regionale bzw. kommunale Anlaufstellen (zum Beispiel das Haus der Talente in Düsseldorf, das Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland, das Netzwerk Begabungsförderung OWL) sowie universitäre Anlaufstellen (zum Beispiel das Osthushenrich-Zentrum für Hochbegabungsforschung an der Fakultät für Biologie der Universität Bielefeld). Darüber hinaus gibt es überregionale Institutionen, wie das Landeskompetenzzentrum für Individuelle Förderung der Universität Münster, die Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW) des Ministeriums für Schule und Bildung NRW sowie das Internationale Centrum für Begabungsforschung der Universitäten Münster, Osnabrück und Nijmegen, die außerschulische Förder- und Unterstützungsangebote in Kooperationen und Netzwerken (zum Beispiel Zukunftsschulen NRW – Netzwerk Lernkultur Individuelle Förderung, Leistung macht Schule) umsetzen.

Wie wird sich die Begabungsförderung voraussichtlich entwickeln?

Die individuelle Begabungsförderung und nachhaltige Potenzialentwicklung wird mit Blick auf das aktuelle Verständnis von Begabungs- und Leistungspotenzialen insbesondere im schulischen Kontext zunehmend an Bedeutung gewinnen. Dabei kann vor allem die Bund-Länder-Initiative »Leistung macht Schule« zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler einen wichtigen Beitrag für die Schul- und Unterrichtsentwicklung insgesamt leisten.

Der amerikanische Begabungsforscher Joseph S. Renzulli hat in diesem Zusammenhang das Bild von der steigenden Flut, die alle Schiffe hebt, geprägt: »A rising tide lifts all ships: Developing the Gifts and Talents of All Students« (Renzulli 1998). Es geht um die Erwartung von Begabungen und die Entwicklung der Potenziale bei allen Kindern und Jugendlichen, das heißt auch von Schülerinnen und Schülern aus bildungsbenachteiligten Lagen oder mit Beeinträchtigungen, wodurch ein wichtiger Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit geleistet werden kann.

Darüber hinaus gilt es, die leistungsbezogenen Fähigkeits- und Persönlichkeitspotenziale von Schülerinnen und Schülern im Sinne der »Active Concerned Citizenship and Ethical Leadership« von Sternberg (2016) zu betrachten. Mit Blick auf dieses Begabungsverständnis des 21. Jahrhunderts gilt es, Schülerinnen und Schüler zur analytisch-kritischen Bürgerschaft und ethischen Verantwortungsübernahme zu befähigen. Dazu gilt es, schulische Lernarchitekturen im Sinne des Globalen Lernens bzw. der Bildung für nachhaltige Entwicklung mit Blick auf die »Sustainable Development Goals« der United Nations (2015) so auszugestalten, dass auch die gesellschaftliche Relevanz der Begabungsförderung deutlich wird. Im Hinblick auf den langfristigen Expertiseerwerb können die Schülerinnen und Schüler mit ihren entfalteten Leistungspotenzialen dann auch zur nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft – im Sinne einer Verantwortungsübernahme für das eigene Lernen und die gemeinsame Zukunft – beitragen.

Herzlichen Dank, Herr Professor Fischer.

Interview mit Uta-Maria Diers

Was bedeutet individuelle Förderung und schulische Begabungsförderung für Sie, Frau Diers?

Individuelle Förderung im schulischen Kontext beginnt damit, die einzelne Schülerin, den einzelnen Schüler in den Blick zu nehmen. Das bedeutet für die Praxis, den Unterricht an den Potenzialen und Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler auszurichten. Dabei schauen wir aber nicht nur in eine Richtung. Potenziale besonderer Begabungen müssen entdeckt und entfaltet werden, ebenso gilt es aber auch, Schwächen und Defizite zu diagnostizieren und zu bearbeiten und Bildungsbarrieren – wo immer es möglich ist – zu beseitigen. Seit 2015 ist das Recht auf individuelle Förderung übrigens im Schulgesetz NRW in § 1 verbürgt. Im Rahmen eines inklusiven Bildungssystems in NRW werden die Individualität eines jeden Kindes und die Vielfalt der Lernenden als Bereicherung wahrgenommen. Insofern differenziert ein potenzialorientierter Unterricht sein Angebot und ist unsere Antwort auf die zunehmende Heterogenität der Schülerinnen und Schüler. Wir verstehen Vielfalt als Chance. Dennoch bleibt Schule der Ort, wo die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten eines jeden Kindes mit den Entwicklungsansprüchen der Gesellschaft in Einklang gebracht werden. Im Spannungsfeld von Normierung und Individualisierung steht jede unterrichtliche Planung. Umso wichtiger ist es, eine Schulkultur der individuellen Förderung als ein hilfreiches und sinnvolles Instrument der Schulentwicklung zu verstehen. Individuelle Förderung kann insofern als Aufgabe verstanden werden, systematisches Lernen mit unterschiedlichen Wegen der Aneignung zu verbinden. Ausgangs- und Zielpunkt in diesem Prozess ist das Prinzip der Passung. Fehlende Passung führt zu Über- oder Unterforderung. Lassen Sie es mich in einem Satz ausdrücken: Individuelle Förderung, wie wir sie verstehen, muss nicht nur beim einzelnen Kind ankommen, sie muss auch passgenau sein.

Für eine differenzierte schulische Begabungsförderung ist der fachliche Anspruch an die pädagogische Arbeit von Lehrkräften hoch. Wo finden Lehrkräfte qualifizierte Fortbildung und Unterstützung?

Fortbildungs- und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte aller Schulformen in diesem Bereich stellen wir vor allem aus drei Quellen zur Verfügung:

  • der Lehrkraftfortbildung in den einzelnen Regierungsbezirken,
  • der Qualifizierung des Landeskompetenzzentrums für Individuelle Förderung NRW (lif)
  • und den verschiedenen Landes- und Bundesprojekten (Leistung macht Schule, Zukunftsschulen NRW).

Lassen Sie mich exemplarisch das zentrale Element der Vernetzung in vielen Fortbildungsangeboten hervorheben und die Landesinitiative Zukunftsschulen NRW als Beispiel anführen. Das Projekt hat sich die Unterstützung einer Lernkultur der individuellen Förderung auf die Fahnen geschrieben. Die schulischen Netzwerke verfolgen das Ziel, unterschiedliche Aktivitäten der individuellen Förderung, die stets in Kooperation mehrerer Schulen stattfinden, mittels einer gemeinsamen Plattform voranzubringen und sichtbar zu machen. Den fachlichen Input holen sich die teilnehmenden Schulen zum Teil aus der Kooperation mit der Lehrkraftfortbildung oder den Kompetenzteams. Weitere fachliche Unterstützung erhalten Lehrkräfte durch die jährlich stattfindenden Landes- und Regionaltagungen. Hier befassen sich Vorträge und Austauschformate wie Workshops oder Impulsforen mit den verschiedenen Aspekten individueller Förderung. Aktive Zukunftsschulen werden zudem für ihre Netzwerkarbeit mit Entlastungsstunden unterstützt. Die erarbeiteten Ergebnisse werden dann auf einer digitalen Plattform allen Schulen zur Verfügung gestellt. Vernetztes Arbeiten ist effizient, schafft Synergien und fördert so die fachliche Weiterentwicklung.

Nicht nur Lehrkräfte, auch Eltern und Schülerinnen und Schüler suchen Rat und Unterstützung bei ihren persönlichen Fragen zur Begabungsförderung. Wo finden sie professionelle Beratung? Welche Ansprechpartner und Anlaufstellen gibt es?

Vor einigen Jahren hat sich die Bezirksregierung Arnsberg auf den Weg gemacht, eine zentrale Anlaufstelle für sämtliche Anfragen aus dem Bereich der individuellen Förderung zu schaffen. Zentrale Leitidee für die Gründung des Büros Individuelle Förderung (BIF) war die Servicefunktion. Das BIF unterstützt Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und Eltern in allen Belangen individueller Förderung im schulischen Bereich. Das Büro ist montags bis freitags von 9.00 Uhr bis 15.00 Uhr telefonisch erreichbar. Zentrales Beratungsziel ist in der Regel eine potenzialorientierte, passgenaue Förderung für Schülerinnen und Schüler aller Schulformen. Individuelle Förderung verstehen wir als Aufgabe, das im Menschen vorhandene Potenzial auszuschöpfen. Damit wird ausdrücklich nicht dem Trend einer grenzenlosen Selbstoptimierung das Wort geredet. Das BIF versteht sich in diesem Prozess als Lotse mit Navigationsfunktion, der individuelle Bildungsbedürfnisse und unterschiedliche Lernausgangslagen mit passenden Bildungsangeboten und -formaten zusammenbringt. Auch und gerade die Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Begabungen orientiert sich am Prinzip der Passung. Das Erkennen und Entfalten der je individuellen Kompetenzen ist dabei untrennbar mit dem Akzeptieren des Persönlichkeitsprofils verbunden.

Wie könnte ein Unterstützungs- und Beratungsprozess konkret aussehen?

Unterstützung bei der speziellen Förderung besonders begabter Schülerinnen und Schüler bietet ein Team fachlicher Beraterinnen und Berater der Bezirksregierung Arnsberg. Das Team setzt sich aus fachlich geschulten Lehrkräften aus allen Schulformen zusammen und bietet auf Anfrage von Eltern oder Schulen eine individuelle und auf die Bedürfnislage der Schülerin bzw. des Schülers angepasste Beratung an. Ziel ist die passgenaue Gestaltung der individuellen schulischen Laufbahn sowie die Unterstützung der Schule beim Aufbau einer schulischen Förderkultur. Die fachlichen Beraterinnen und Berater arbeiten in enger Kooperation mit den regionalen Schulberatungsstellen und der Schulpsychologie Arnsberg sowie dem Arbeitskreis Autismus.

Ausgehend von den Bedürfnissen der Schülerin oder des Schülers setzen sich am Runden Tisch alle Beteiligten als Expertinnen und Experten zusammen. Gemeinsam werden Vereinbarungen getroffen und ein individueller Förderplan erstellt, der auf einem stärkenorientierten Blick auf das Kind basiert. Dabei begleitet die fachliche Beratung den gesamten Prozess und unterstützt die Akteure bei der Einhaltung der Vereinbarungen.

Eine begabungsgerechte schulische Förderung hat aber nicht nur die kognitiven Fähigkeiten des Kindes im Blick, sondern berücksichtigt gleichermaßen sozial-emotionale Aspekte. Eine Integration hochbegabter Kinder in die Klassengemeinschaft gehört unabdingbar zur schulischen Förderung.

NRW nimmt an der Bund-Länder-Initiative »Leistung macht Schule (LemaS)« teil. Das Hauptziel der Initiative ist es, die Entwicklungsmöglichkeiten von leistungsstarken Schülerinnen und Schülern zu optimieren. Was sind die besonderen Stärken und Chancen dieser Initiative aus Ihrer Sicht? Welche Auswirkungen erwarten oder erhoffen Sie durch die Teilnahme an LemaS für die Begabungsförderung in NRW?

Spätestens seit der Hattie-Studie, die sich eingehend mit der Messung der Effektivität des Lehrens und Lernens beschäftigt hat, wissen wir, wie wichtig die Erkenntnisse einer evidenzbasierten Bildungsforschung für unser schulpraktisches Handeln sind. So ist zum Beispiel individuelle Förderung ‚an sich‘ kein Allheilmittel, sie ist nur schwach lernwirksam. Das Verhältnis der Lehrkraft zur Schülerschaft dagegen ist für den Lernerfolg von größerer, entscheidender Bedeutung.

Ausgangspunkte der Bund-Länder-Initiative »Leistung macht Schule« war die Frage: Wie können Schülerinnen und Schüler mit besonderen Begabungen optimal gefördert werden? In 22 Teilprojekten mit 300 Schulen bundesweit geht ein Forschungsverbund aus 17 Universitäten dieser Frage wissenschaftlich auf den Grund. Aus unserem Regierungsbezirk nahmen an der ersten Förderphase des LemaS-Projektes 15 Schulen verschiedener Schulformen teil. Gerade in der wissenschaftlichen Begleitung und der empirischen Überprüfung der Lernwirksamkeit der verschiedenen Wege und Werkzeuge der Begabungsförderung sehen wir die Stärke des Projekts. Insofern erhoffen wir uns von LemaS für die Entwicklung einer Lernkultur der individuellen Förderung einen Schub mit Breitenwirkung.

Welche außerschulischen Förder- und Unterstützungsangebote bzw. Anlaufstellen sind in NRW charakteristisch?

Gerade auf diesem Feld der sogenannten Enrichment-Angebote finden Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte in NRW eine kaum überschaubare Fülle an Fördermöglichkeiten in vielen Bereichen und Fächern. In unserer Beratungspraxis spielen vor allem Wettbewerbe, Ferienakademien und die Schüler-Uni-Projekte eine wichtige Rolle.

In Schülerwettbewerben können besonders interessierte und leistungsbereite Schülerinnen und Schüler auch über den Unterricht hinaus ihren Interessensschwerpunkten nachgehen und sich mit anderen messen. Wettbewerbe gibt es für alle Altersgruppen und für nahezu alle Unterrichtsfächer. Besonders begehrt sind aber auch Sommerkurse, Schülerakademien oder die Lernferien NRW. Sie werden meist für bestimmte Altersgruppen und Interessensgebiete angeboten.

Fast alle Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen bieten zudem Schülern und Schülerinnen der Sekundarstufe II (in Ausnahmefällen auch der Mittelstufe) die Möglichkeit, bereits während ihrer Schulzeit an regulären Veranstaltungen für Studierende teilzunehmen und Leistungsnachweise zu erwerben. In unserem Regierungsbezirk kooperieren die Ruhr-Universität Bochum, die TU Dortmund und die Universität Siegen mit zahlreichen Schulen.

Wie wird sich die Begabungsförderung voraussichtlich Ihrer Meinung nach entwickeln, gerade auch mit Blick auf neue Wege und Herausforderungen?

Ich sehe zwei Trends, die es sicherlich wert sind, weiterverfolgt zu werden.

In der täglichen Beratungs- und Förderungspraxis müssen wir die Einzelfallberatung weiterentwickeln zu einer noch stärkeren systemischen Verankerung im Schulsystem. Lassen Sie mich thesenhaft formulieren: Begabtenförderung ist Schulentwicklung!

Und: Mobiles Lernen durch digitale Medien verändert auch die Inhalte des Lernens. Neben der Erweiterung und Vertiefung der fachlichen Dimensionen eines Themas treten neue – oder besser neu entdeckte – Kompetenzen, die es ebenfalls wert sind, gefördert zu werden: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. Alles Kompetenzen, die zu einem inklusiven Förderkonzept unbedingt dazu gehören.

Welche nächsten Schritte möchten Sie im Bereich der Begabungsförderung und individuellen Förderung angehen?

Wenn wir auf die vergangenen Jahre in diesem Bereich zurückschauen, sind wir nicht unzufrieden. Vieles ist angestoßen worden und hat sich auch durch organisatorische Maßnahmen und strukturelle Verankerungen verstetigt. Aber wie ein englisches Sprichwort schon sagt: Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Wer aufhört zu rudern, treibt zurück. Und auch wir sind in einem permanenten Lernprozess.

So gibt es seit 2022 das landesweite Qualifizierungsprojekt »Karg Campus Beratung Nordrhein-Westfalen« zur weiteren Professionalisierung von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen in der Beratung von Schulen, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern.

Des Weiteren sind wir mit der Lehrkraftfortbildung im Gespräch, um Schulen bei der Erstellung von Förderkonzepten und Beratungsangeboten durch entsprechende Fortbildungsmodule für Lehrkräfte zu unterstützen. Hier haben wir durch Austausch und Kooperation mit der »Beratungsstelle besondere Begabungen« am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg hilfreiche Anregungen erhalten.

Herzlichen Dank, Frau Diers.