Bildungsgerechtigkeit: SchlĂĽssel zur Zukunft von Kindern und Jugendlichen
Wir brauchen mehr Bildungsgerechtigkeit im deutschen Bildungssystem – darüber sind sich alle einig. Doch wie lässt sie sich in der Praxis konkret erreichen? Patentrezepte gibt es nicht, wohl aber vielfältige Möglichkeiten – abhängig von den Gegebenheiten vor Ort. Viele Schulen sind bereits aktiv und setzen für ihre Schüler:innen Maßnahmen zur Stärkung von Bildungsgerechtigkeit um, mit dem Ziel, Bildungserfolg stärker als bisher von Herkunft oder sozialem Hintergrund zu entkoppeln. Welche Wege besonders wirksam sind und was Schulen konkret tun können, darüber haben wir mit Sabine Doff, Professorin an der Universität Bremen, gesprochen.

Ein Gastbeitrag von Sabine Doff
Unlock the Future – die Studie
Die Studie »Expedition Bildungsgerechtigkeit« von Sabine Doff untersucht, wie Schulen in Bremen und Bremerhaven mit der Herausforderung, Bildung gerecht zu gestalten, umgehen. Im Fokus steht ein systemischer Ansatz, der Klassenzimmer, Schulalltag und Bildungssystem zusammendenkt. DafĂĽr wurden 12 Schulen aus verschiedenen Stadtteilen und Schulformen ausgewählt, die sich aktiv mit unterschiedlichen Aspekten von Bildungsgerechtigkeit beschäftigen.Â
Bildungsgerechtigkeit in der Praxis umsetzen – ja, aber wie?
Wie lässt sich Bildung gerechter gestalten – und wie können Schulen dazu beitragen?Â
Die Studie »Expedition Bildungsgerechtigkeit« geht drei zentralen Fragen nach:Â
- Was ist Bildungsgerechtigkeit genau?
- Welche Barrieren stehen bei deren Stärkung bisher im Weg?
- Und wo eröffnen sich Handlungsspielräume – heute und in Zukunft?Â
Ziel der Expedition durch zwölf Schulen in Bremen und Bremerhaven: Wege aufzeigen, wie ein Bildungssystem gestaltet sein kann, das möglichst allen Kindern gerecht wird. Die Open Access publizierte Studie sowie das Ausstellungsprojekt inklusiver digitaler Präsenz mit der Webseite »Unlock the Future« fassen die Ergebnisse der Studie leicht verständlich zusammen und legen dabei den Schwerpunkt auf die Praxis. In 12 Schulporträts wird sichtbar: Bildungsgerechtigkeit hat viele Gesichter. Jede Schule findet ihren eigenen Weg – mit jeweils unterschiedlichen Maßnahmen, aber dem gleichen Ziel: Bildungsgerechtigkeit für alle.
Vier Fragen an Sabine Doff
Sie haben einmal gesagt: »Es braucht einen anderen Blick. Einen, der anerkennt, was schon heute gelingt – und ermutigt, weiterzudenken.« Welchen Blick zeichnet Ihre Studie zur Bildungsgerechtigkeit in Bremen aus?
Die Studie zeichnet ein zugewandter und wertschätzender Blick aus auf diejenigen, die Praxis gestalten sowie auf diejenigen, für die das geschieht. Das bedeutet nicht, eine rosarote Brille aufzusetzen und unkritisch über Herausforderungen hinwegzugehen. Es bedeutet, im ersten Schritt anzuerkennen, dass viele, die in Schule Verantwortung übernehmen, täglich ihr Bestes geben und dass ohne ihren Einsatz die Situation vielerorts deutlich kritischer wäre. Wenn man so in einen Dialog geht, stellt sich meiner Erfahrung nach schnell heraus, dass es bei den Gesprächspartnern in der Regel großes Interesse an Verbesserungsmöglichkeiten gibt, die wir am besten von vornherein gemeinsam gestalten mit denjenigen, die sie im Schulalltag umsetzen werden.
In Ihrer Studie nehmen Sie einen umfassenden, systemischen Blick ein. An dieser Stelle interessiert uns der Fokus auf die Praxis: Was können Schulen schon heute konkret tun, um Bildungsgerechtigkeit zu fördern? Welche Schritte lassen sich direkt im Schulalltag umsetzen – auch ohne große Strukturreformen?
Die Schulen, die bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Stärkung von Bildungsgerechtigkeit besonders erfolgreich sind, weisen zwei Merkmale auf: Unter den Verantwortlichen gibt es eine gemeinsame Haltung dazu, was Bildungsgerechtigkeit ist, welche Werte damit einhergehen und mittels welcher Maßnahmen diese im jeweiligen Kontext am besten umzusetzen sind. Das ist ein iterativer Prozess, der in einem ständigen Dialog fortgeführt wird und in dem gemeinsam beständig Anpassungen vorgenommen werden. Und zwar geschieht dies an den Schulen, an denen sich viel bewegt evidenzbasiert, das heißt die Verantwortlichen entscheiden nicht nur, aber wesentlich auch auf der Grundlage von Daten, zum Beispiel hinsichtlich der Leistungen der Schülerinnen und Schüler, über zielführende nächste Schritte.
Wenn Sie einen Tag lang Schulleiterin an einer Schule in herausfordernder Lage wären – was würden Sie als Erstes verändern?
Das kommt natürlich auf die Schule an. Auch im Kontext der Studie hat sich gezeigt: Keine Schule ist wie die andere, das gilt auch für Schulen in herausfordernder Lage. Diese teilen jedoch in der Regel bestimmte Charakteristika im Hinblick auf weite Teile ihrer Schülerschaft. Im Hinblick darauf erscheinen mir u.a. die folgenden beiden Maßnahmen unabdingbar: Wenn es an der Schule, an der ich Schulleiterin bin, noch kein gemeinsames Frühstücks- und Mittagessenangebot gäbe, würde ich es einführen. Das ist über Stiftungsmittel und die Arbeit von Ehrenamtlichen in vielen Fällen niedrigschwellig zu lösen. Eine zweite Maßnahme, die ich als Schulleiterin einführen würde, falls es sie noch nicht gäbe, wäre das Leseband für die Klassen 1 bis mindestens 6. Und zwar an fünf Tagen die Woche zu einer für die ganze Schule feststehenden Zeit. Nicht optional, sondern fakultativ.
Sie haben im Kontext der Studie auch mit den Schüler:inenn gearbeitet. Was können Schulen von ihren Schüler:innen über Bildungsgerechtigkeit lernen – wenn man ihnen wirklich zuhört?
Ich habe gelernt, dass Schülerinnen und Schüler eine ganze Menge zu sagen haben, wenn man ihnen vertrauensvoll und offen entgegentritt. Möglicherweise wissen viele Verantwortliche das schon längst, es ist allerdings meines Erachtens noch nicht gelungen, wirksame Strukturen, beispielsweise auf der Ebene des Klassenzimmers, der Einzelschule oder darüber hinaus systematisch so zu verankern, dass diejenigen, für die entsprechende Maßnahmen getroffen werden, in diese Prozesse regelhaft einbezogen werden. Anders gesagt: Eine stärkere systematische Einbeziehung von Kindern ,Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Entscheidungsprozesse darüber, wie wir Bildung gestalten, halte ich für unabdingbar. Wenn wir möchten, dass sie Gesellschaft und deren Zukunft aus der Mitte statt von den Rändern mitgestalten, benötigen sie genau dort rechtzeitig einen Platz.

Prof. Dr. Sabine Doff
Aus der Praxis
Schule am Ernst-Reuter-Platz (OSE), kurz: »Ernst!«Â
Bremerhaven, Stadtteil Lehe
Die Schule am Ernst-Reuter-Platz (OSE), von der Schulgemeinschaft »Ernst!« genannt, ist vor 15 Jahren neu gestartet als eine Oberschule ohne Oberstufe mit ca. 450 Schülerinnen und Schülern in 18 Regel- und zwei Vorbereitungsklassen. Die Schule in sozial herausfordernder Lage im Stadtteil Lehe gehört zu den über den Sozialindex bestimmten sogenannten Startchancen-Schulen in Bremerhaven, die im Programm ab Herbst 2024 mit dem Ziel unterstützt werden, die Zahl der Kinder, die die Mindeststandards nicht erreichen, innerhalb von zehn Jahren zu halbieren. Die Schülerschaft ist sehr divers, was Herkunft, Sozialisation, Nationalität und Leistungsstände betrifft. In vielen Familien wird wenig Deutsch gesprochen, die meisten von ihnen haben eine Migrationsgeschichte und leben in herausfordernden sozio-strukturellen Verhältnissen.
Auf einen Blick
Schulform:Â Oberschule
Anzahl Lehrkräfte: ca. 31 Lehrer:innen, 7 Referendar:innen
Zusatzpersonal: 5 Sonderpädagog:innen 2 Sozialpädagog:innen, 11 pädagogische Mitarbeiter:innen, Hausmeister, Techniker
SchĂĽler: ca. 450
Besonderheiten:Â Arbeits- und Berufsorientierung, Kooperation mit Betrieben, Werft
Der Fokus: Praxiskontakte systematisieren
Ein zentraler Fokus der »Ernst!« ist die Praxisorientierung zur Förderung von Bildungsgerechtigkeit. Das bedeutet hier eine frühe und konsequente Berufsorientierung in enger Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern im Stadtteil Bremerhaven-Lehe. Die Jugendlichen erhalten zudem möglichst durchgängig über Paten bzw. Bildungsbuddies eine individuelle Begleitung innerhalb und außerhalb der Schule. Dadurch erhalten die Schüler:innen nicht nur realistische Zukunftsperspektiven, sondern erfahren, wofür schulisches Lernen im Alltag und Berufsleben gebraucht wird: Lernen wird auf diese Weise (alltags-)relevant.
Die Umsetzung
Seit dem Neustart vor 15 Jahren setzt die Schule daher auf durchgängige Maßnahmen zur Berufsorientierung – eine Strategie, die auch den Stadtteil stärkt. Dazu gehört die Mitgliedschaft im Netzwerk Schule-Wirtschaft-Wissenschaft (NSWW), das Jugendlichen regionale Berufsperspektiven aufzeigt und den Dialog zwischen Schule, Wirtschaft und Wissenschaft fördert. Inzwischen sind viele Unternehmen aktive Partner der Ernst!, u.a. beim jährlichen Berufsorientierungstag für die Jahrgänge 9 und 10.
Ab Klasse 8 absolvieren die SchĂĽler:innen mehrere Praktika. Ergänzend gibt es handwerklich-kreative Projekte, z.B. mit Schmieden oder Holzwerkstätten, deren Ergebnisse in der Schule sichtbar sind. Auch produktorientierte Angebote wie Kochen, Marktstände oder die Herstellung von Honig und Seifen wurden erprobt.Â
Wesentlich ist die individuelle Begleitung. Dafür sorgen Bildungs- und Ausbildungspaten, die Schüler:innen bei Bewerbungen unterstützen und Kontakte in die Wirtschaft vermitteln. Zusätzlich helfen „Bildungsbuddies“ – Studierende der Hochschule – jüngeren Kindern im Unterricht und bei Freizeitaktivitäten.
Die Erfolge sind sichtbar: Viele Jugendliche finden Ausbildungsplätze, und die Ernst! gehört in Bremerhaven zu den führenden Schulen in diesem Bereich. Zudem suchen Unternehmen inzwischen aktiv die Kooperation mit der Schule.
Heinrich-Heine-Schule (HHS)Â
Bremerhaven, Stadtteil Leherheide
Das Einzugsgebiet im Stadtteil Leherheide grenzt an Niedersachsen. Die Diversität innerhalb der Schülerschaft ist sehr groß im Vergleich zu anderen Stadtteilen in Bremerhaven, da die sozio-strukturellen Voraussetzungen der Familien stark variieren. Die HHS wird von Eltern, deren Kinder Leistungen über dem Regelstandard erbringen, nach der Grundschule überdurchschnittlich oft angewählt. Es gibt sowohl Kinder aus gut situierten Elternhäusern und ebenso aus Familien, die in Plattenbauten und Sozialwohnungen in Schulnähe leben.
Auf einen Blick
Schulform:Â Oberschule
Anzahl Lehrkräfte: ca. 72
Zusatzpersonal: ca. 42 (persönliche Assistenzen, Hausmeister, Geschäftszimmer, Betreuungspersonal, 1 Sozialarbeiter, 1 Sozialpädagogin)
SchĂĽler: ca. 660
Besonderheiten:Â Klassenlehrerprinzip, Berufsorientierung, Klassenrat, Medien- und Methodenkompetenzen, interkulturelle Kompetenzen, Umwelt und Nachhaltigkeit, Schwimmen
Der Fokus: Gesehen werden!
Die HSS setzt mit dem Klassenlehrer-Prinzip auf Kontinuität und enge Bindungen zwischen Lehrkraft und Schülerschaft. So entsteht Raum für individuelles Lernen, soziales Miteinander und gezielte Unterstützung – auch in schwierigen Situationen. Angesichts tendenziell abnehmender elterlicher Fürsorge sieht sich die Schule zunehmend in der Verantwortung, Kindern Halt, Orientierung und Motivation zu geben und nach Möglichkeit gemeinsam mit den Eltern Wege zu mehr Bildungsgerechtigkeit zu finden.
Die Umsetzung
Zentraler Baustein des pädagogischen Konzeptes »Eine Schule für alle« ist das Klassenlehrer-Prinzip: Eine Lehrkraft begleitet die Klasse möglichst von Jahrgang 5 bis 10. Da Lernen nur in einer vertrauensvollen Beziehung gelingt, übernimmt die Klassenleitung nicht nur ein Hauptfach, sondern auch Nebenfächer sowie den fächerübergreifenden teamorientierten Unterricht (Geschichte, Politik, Geographie, Religion, WAT). Dort stehen soziales Lernen und Berufsorientierung im Mittelpunkt; in höheren Jahrgängen auch Praktikumsbetreuung und Projektarbeiten. So wird die Kontaktzeit maximiert, wodurch Lehrkräfte auch das private Umfeld der Kinder besser wahrnehmen und bei Problemen unterstützen können.
Durch Ressourcenmangel und Personalwechsel ist die Kontinuität jedoch nicht immer gewährleistet. Wechsel führen oft zu Unruhe, können aber durch die flexible Ausrichtung des teamorientierten Unterrichts abgefedert werden. So wurde etwa nach einem religiösen Konflikt innerhalb einer Klasse kurzfristig das Thema »Toleranz und Religion« aufgegriffen – ein Signal, dass die Anliegen der Schülerinnen und Schüler ernst genommen werden.
Viele Eltern kümmern sich laut Beobachtung der Schule heute weniger um ihre Kinder, versorgen sie zwar materiell, schenken ihnen aber immer weniger Zuwendung oder Interesse. Dadurch fehlen Alltagsgespräche, Kinder fühlen sich übersehen und entwickeln teils eine »Null-Bock-Haltung«. Manche Eltern erwarten, dass die Schule alle Defizite auffängt, ziehen bei Misserfolgen sogar Anwälte hinzu (»U-Boot-Eltern«). Andere wiederum treten überpräsent auf und verteidigen ihr Kind in jeder Lage – ein im Vergleich eher ungewöhnliches Phänomen.
Bildungsgerechtigkeit bedeutet für die HSS, die Kinder in ihren Problemlagen ernst zu nehmen, Eltern möglichst einzubeziehen und gemeinsam Wege zu finden, wie die Schülerinnen und Schüler bestmöglich gefördert und zum Lernen motiviert werden können.
Was bedeutet Bildungsgerechtigkeit?
Bildungsgerechtigkeit – drei PerspektivenÂ
Bildungsgerechtigkeit bedeutet mehr als gleiche Chancen. Fachleute unterscheiden drei Konzepte:
- Verteilungsgerechtigkeit: Alle bekommen die gleichen Mittel – zum Beispiel Ausstattung, Lernzeit, Zugänge.
- Schwellengerechtigkeit: Unterschiedliche Startbedingungen erfordern gezielte Förderung, damit alle wichtige Hürden wie Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen oder einen bestimmten Schulabschluss schaffen.
- Anerkennungsgerechtigkeit: Jede Persönlichkeit wird respektiert – Herkunft, Lebenslage und Individualität zählen.
In der Praxis wirken die drei Ebenen zusammen. Schulen müssen also Bedingungen angleichen, individuell unterstützen und Vielfalt anerkennen. Diese Unterscheidung hilft, Maßnahmen zu verorten – ob auf der Ebene einzelner Schüler:innen, der Schule oder des Bildungssystems.
Bildungsgerechtigkeit in sozialen Brennpunkten
An Schulen in herausfordernder Lage zeigt sich, wie wichtig Unterstützung jenseits des Unterrichts ist. Kinder brauchen nicht nur Förderstunden, sondern auch ein sicheres Umfeld, verlässliche Ansprechpersonen, Mahlzeiten und Raum für Bewegung. Lehrkräfte allein können das kaum leisten – hier sind multiprofessionelle Teams gefragt.
Viele Bundesländer nutzen inzwischen Sozialindizes, um solche Schulen zu identifizieren und gezielt zu fördern. Entscheidend bleibt aber: Bildungsgerechtigkeit gelingt nur mit verlässlichen Ressourcen, guter Vernetzung und Zeit für Beziehungsarbeit. Praxis heißt hier: Lernen und Leben zusammendenken.
Sie sind gefragt
Zum Weiterlesen
- Doff, Sabine (2025): Expedition Bildungsgerechtigkeit: Ergebnisse und Erfahrungen von der Suche nach dem SchlĂĽssel zur Zukunft von Kindern und Jugendlichen. Verlag Julius Klinkhardt. Zur Studie.
- Unlock the Future. Bildungsgerechtigkeit:
SchlĂĽssel zur Zukunft. Zur Webseite.
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