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Interview

Informationen zur Begabtenförderung in Sachsen - ein Überblick

Interview mit Dr. Rainer Heinrich
Leiter des Referats 45 »Gymnasien, Abendgymnasien, Kollegs« im Sächsischen Staatsministerium für Kultus

Herr Dr. Heinrich, »Jeder zählt!« ist ein bildungspolitischer Leitsatz des Freistaates Sachsen. Auf welchem Selbstverständnis beruht in Sachsen die Begabtenförderung von jungen talentierten Menschen?

Der Auftrag, jedem Kind zu einer optimalen Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit zu verhelfen, ist im Schulgesetz des Freistaates Sachsen verankert. Das Gesetz betont »das Recht eines jeden jungen Menschen auf eine seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Erziehung und Bildung ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage« und fordert, dass »bei der Gestaltung der Lernprozesse … die unterschiedliche Lern- und Leistungsfähigkeit der Schüler inhaltlich und didaktisch-methodisch berücksichtigt« wird. Mit Blick auf die individuelle Förderung wird geregelt, dass sich die Ausgestaltung des Unterrichts und anderer schulischer Veranstaltungen … an den individuellen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen der Schüler orientiert.

Das Konzept des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus zur schulischen Begabtenförderung geht davon aus, dass die Begabtenförderung in den allgemeinbildenden Schulen in einem gestuften System abläuft, um in differenzierter Weise den individuellen Neigungen und Begabungen gerecht zu werden. Der Begriff der Differenzierung umfasst dabei sowohl die äußere Differenzierung nach Schularten und Bildungsgängen als auch die innere Differenzierung nach Anforderungsniveau innerhalb von heterogenen Lerngruppen. Ein Teilbereich der Begabtenförderung ist die Hochbegabtenförderung.

Die Schulen werden zunehmend den individuellen Begabungsniveaus besser gerecht. Dazu gehören Individualisierung im Unterricht und Maßnahmen der äußeren Differenzierung.

Im gymnasialen Netzwerk GIFted zur individuellen Förderung besonders begabter Schülerinnen und Schüler zum Beispiel, haben die beteiligten Schulen Strategien und Materialien zur integrativen Begabtenförderung durch individualisierte Lernangebote entwickelt und erprobt. Die Ergebnisse sollen nun allen sächsischen Schulen zur Verfügung gestellt werden.

Nicht nur begabte Schülerinnen und Schüler können in einer begabungsfreundlichen Lernumgebung ihr Leistungspotenzial ausschöpfen. Durch eine individualisierte und differenzierte Unterrichtsgestaltung werden alle Schüler zu besseren Leistungen angeregt.

Durch die Entwicklung einer systematischen Begabungs- und Begabtenförderung an einem Schulstandort wird die Qualität des Unterrichts insgesamt verbessert, die Entwicklung der Schulorganisation angeregt und die Zufriedenheit der Schüler und Lehrer gesteigert. Begabungs- und Begabtenförderung ist ein Motor für die Qualitätsentwicklung der gesamten Schule.


Sie erwähnen das Projekt GIFted, an dem zwischen 2009 und 2016 21 Gymnasien in Sachsen teilgenommen haben. Welche Zielsetzung hatte das Projekt und wie können die entwickelten Strukturen im Schulalltag nachhaltig verankert werden?

Ziel des Projekts war die gezielte Unterstützung der Entwicklung und Etablierung individualisierter Lernangebote an den Gymnasien sowie die Vernetzung zwischen Gymnasien und Grundschulen im Bereich der Begabtenförderung.

Die Schul- und Unterrichtsentwicklung an Gymnasien sollte so unterstützt werden, dass begabte und hochbegabte Schülerinnen und Schüler erkannt und entsprechend ihren individuellen Lernvoraussetzungen gefördert werden.

Der Abschlussbericht liegt vor. Dieser zeigt überzeugend das hohe Engagement der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer und bietet für alle sächsischen Schulen eine Vielzahl von Ideen und Anregungen für die gezielte Förderung begabter Schüler.

Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei der Karg-Stiftung, insbesondere bei Herrn Dr. Ahl und Herrn Dr. Steenbuck bedanken. Sie haben das Projekt von Anfang an mit ihrer Fachkompetenz begleitet und auch finanziell in hohem Umfang gefördert. Ohne die Karg-Stiftung wäre die Durchführung von GIFted nicht möglich gewesen.

Begabtenförderung findet in Sachsen jedoch nicht nur an Gymnasien statt. Wie sieht die Begabtenförderung an sächsischen Grundschulen und Oberschulen aus?

Begabtenförderung muss in der Tat sehr viel früher als am Gymnasium einsetzen. Die Erfahrungen der Beratungsstelle zur Begabtenförderung zeigen zum Beispiel, dass der Beratungs- und Diagnostikbedarf bereits im vorschulischen Bereich enorm gestiegen ist.

Ähnlich wie GIFted gab es in den letzten Jahren ein Netzwerk von 32 Grundschulen, an denen besondere Methoden und Lernangebote für begabte Schülerinnen und Schüler entwickelt und erprobt wurden. Mit dem Abschlussbericht konnten die dort gewonnenen Erfahrungen allen Grundschulen in Sachsen zur Verfügung gestellt werden.

An den Oberschulen können Möglichkeiten der Neigungskurse ebenso wie differenzierte Lernangebote zur Förderung begabter Schüler genutzt werden. Darüber hinaus gibt es auch hier Möglichkeiten der äußeren Differenzierung in Form der sportbetonten Schulen oder der Palucca Hochschule.

MINT-Förderung wird in Sachsen groß geschrieben. Richtet sich die Förderung an alle Altersstufen und Schulformen?

MINT-Fächer besitzen im sächsischen Schulsystem in der Tat eine herausragende Bedeutung. Sachsen hat bundesweit seit Jahren die führende Position bei der MINT-Förderung inne.

Bereits in der frühkindlichen Bildung in sächsischen Kindertageseinrichtungen wird dem Bereich MINT Priorität eingeräumt. Der Sächsische Bildungsplan enthält unter anderem Bildungsbereiche, die den Bereich der naturwissenschaftlichen Bildung unter dem Leitbegriff »Entdecken« sowie den Bereich der mathematischen Bildung unter dem Leitbegriff »Ordnen« thematisieren. Das Landesmodellprojekt »Haus der kleinen Forscher« in Kindertageseinrichtungen wird seit 2011 aus Mitteln der Bundesregierung und der »Stiftung Kinder forschen« finanziert und vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus gefördert.

In den sächsischen Grundschulen finden Maßnahmen zur Stärkung der mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Bildung vor allem in den Fächern Mathematik, Sachunterricht, Werken und Deutsch statt. Zusätzlich werden mathematische, naturwissenschaftliche oder technische Themen im fächerverbindenden und fachübergreifenden Unterricht aufgegriffen. Das Fach Werken wird, im Gegensatz zu anderen Bundesländern, als eigenständiges Fach unterrichtet. Das Fach Sachunterricht ist ein Kernfach. Stunden aus dem Fach Deutsch werden differenziert zur informatischen Vorbildung genutzt.

An sächsischen Oberschulen werden Neigungskurse in den Klassenstufen 7 bis 9 unter anderem zu den Themen Informatik und Medien sowie Naturwissenschaft und Technik angeboten. Mit zahlreichen außerschulischen Einrichtungen bestehen Kooperationen. Es werden Projekte und Angebote von Vereinen zur außerschulischen Technikbildung genutzt.

Die Lehrpläne in den Naturwissenschaften für die Gymnasien zielen besonders auf den Erwerb von intelligentem und anwendungsbereitem Wissen sowie auf die Vernetzung der drei Naturwissenschaften. Durch die verpflichtende Belegung der Naturwissenschaften in der gymnasialen Oberstufe werden die Schüler besser auf entsprechende Studiengänge vorbereitet. Die Förderung mathematisch und naturwissenschaftlich besonders begabter Schülerinnen und Schüler erfolgt zudem an den sechs Gymnasien mit vertiefter mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausbildung.

Im Bereich der berufsqualifizierenden Bildungsgänge gibt es ein breites Fachrichtungsangebot im MINT-Bereich. Etwa 40 % der Schüler am Beruflichen Gymnasium und etwa 25 % der Schüler an Fachoberschulen entscheiden sich für MINT-Fachrichtungen.

Schülerwettbewerbe auf Landes- und Bundesebene sowie auf internationaler Ebene, Projekte im Rahmen von Ganztagsangeboten, Schülerlabore sowie der konsequente Einsatz neuer Medien unterstützen die Maßnahmen der MINT-Förderung sinnvoll. Die Zusammenarbeit mit externen Partnern wird intensiviert.


Welche besonderen Förderangebote im außerschulischen Bereich sind für Sachsen zudem charakteristisch?

Zunächst denke ich hier an die Vielzahl der Schülerwettbewerbe wie Olympiaden in Mathematik, in Naturwissenschaften und Sprachen, ich denke an »Jugend forscht« oder »Jugend musiziert«. Ich möchte an dieser Stelle zwei Wettbewerbe besonders nennen, die von Sachsen ausgegangen sind. Das ist zum einen der Adam-Ries-Wettbewerb, der ein Angebot für mathematisch interessierte Schüler der Klassenstufe 5 darstellt. Am Wettbewerb nehmen gegenwärtig Schüler aus Sachsen, Bayern, Thüringen und Tschechien teil. Und es gibt inzwischen auch einen Adam-Ries-Wettbewerb für Vorschulkinder.

Im Bereich der Fremdsprachen gibt es zum anderen mit der Slawinade auch einen Wettbewerb für sprachbegabte Schülerinnen und Schüler, die Aufgaben in mehreren der Sprachen Polnisch, Russisch, Sorbisch und Tschechisch bewältigen müssen.

Das Sächsische Staatsministerium für Kultus unterstützt diese Wettbewerbe, allerdings möchte ich auch an dieser Stelle den vielen ehrenamtlichen Initiatoren und Helfern danken, ohne die diese Wettbewerbe nicht möglich wären.

Darüber hinaus unterstützen uns zahlreiche Partner bei der außerunterrichtlichen Begabtenförderung, wie Museen, Schülerlabore oder das Schülerrechenzentrum der TU Dresden.


Ein wesentlicher Pfeiler der Förderung ist die professionelle Beratung von Eltern, Schülern und Lehrkräften bei persönlichen Fragen zur Begabtenförderung. Welche Anlaufstellen und Ansprechpartner gibt es in Sachsen?

An erster Stelle möchte ich hier die Beratungsstelle zur Begabtenförderung (BzB) in Radebeul nennen. Hier erhalten Eltern, Kinder und Lehrer professionelle Beratung und Unterstützung bei allen die Begabten- oder Hochbegabtenförderung betreffenden Fragen. Das Besondere bei der BzB ist das Zusammenwirken von pädagogischer und psychologischer Diagnostik. Die Beratungsstelle hat die Aufgaben der Einzelfallberatung (mittlerweile liegt die Fallzahl deutlich im vierstelligen Bereich), der systemischen Beratung von ganzen Schulen und der Fortbildung sowie der Betreuung von Netzwerken. Sie ist dem Landesamt für Schule und Bildung angegliedert.

Nach Auslaufen des Netzwerkes GIFted sind wir nun dabei, auch in den Regionen weitere Beratungsangebote an Konsultationsschulen und Kompetenzzentren anzubieten, die zum Beispiel die Erstberatung betroffener Familien übernehmen könnten. Darüber hinaus haben wir in Zusammenarbeit mit der Karg-Stiftung in den letzten Jahren eine deutliche Anzahl an Lehrern als Impulskreismoderatoren oder im Rahmen von eVOCATIOn fortgebildet, die ebenfalls als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.

Im November 2016 ist die gemeinsame Initiative von Bund und Ländern ins Leben gerufen worden, bessere Entwicklungsmöglichkeiten für leistungsstarke und leistungsfähige Schülerinnen und Schüler zu schaffen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status. In jedem Bundesland sollen zunächst Pilotschulen über einen Zeitraum von 5 Jahren Konzepte zur Förderung erarbeiten. Die entwickelten Strategien und Konzepte werden der Schulpraxis anschließend zur Verfügung gestellt. Welche nächsten Umsetzungsschritte stehen hier für Sachsen an, Herr Dr. Heinrich, und wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der Begabtenförderung in Sachsen ein?

Der Freistaat Sachsen hat sich eindeutig zur Begabtenförderung bekannt. Das zeigt sich auch daran, dass während der Präsidentschaft der KMK die Förderstrategie für Leistungsstarke initiiert und verabschiedet wurde.

Die Bund-Länder-Initiative kommt dem natürlich sehr entgegen. Wir werden den Prozess der Einführung von Konsultationsschulen und Kompetenzzentren nun mit dieser Initiative koppeln. Diese Schulen haben sich damit als Pilotschulen beworben. Sie werden die in der Initiative festgelegten Module bearbeiten, in ihre Arbeit einbeziehen und können dabei von den im Projekt GIFTed gewonnenen Erfahrungen profitieren. Wir werden Gespräche mit allen beteiligten Schulen führen und Zuordnungen der zu bearbeitenden Module treffen. Auch über die Einbeziehung von Grundschulen in die Umsetzung der Bund-Länder-Initiative wird gegenwärtig im Ministerium beraten.

Ich sehe die Entwicklung in Sachsen deshalb durchaus optimistisch. Durch die Bund-Länder-Initiative bieten sich neue Möglichkeiten der bundesweiten Vernetzung, des Erfahrungsaustauschs und der Unterstützung durch die Wissenschaft.

Nicht zuletzt hatten die drei Länder Bayern, Hessen und Sachsen bereits im Dezember 2015 im Rahmen einer gemeinsamen Erklärung eine Erweiterung der Zusammenarbeit bei der Begabtenförderung vereinbart. Dazu läuft gerade ein gegenseitiges Hospitationsprogramm von Lehrerinnen und Lehrern aus den drei Ländern. Im Januar 2017 fand im bayerischen Dillingen zum ersten Mal eine gemeinsame Fortbildungsveranstaltung für Lehrer aus den drei Ländern zur Begabtenförderung statt. Aus der länderübergreifenden Zusammenarbeit erwarte ich weitere Impulse für uns in Sachsen. Wichtig ist, dass diese verschiedenen Initiativen nun gut vernetzt werden.


Herzlichen Dank!